Mit Blick auf unsere gesamtgesellschaftliche Situation beschwören einige Zeitgenossen beinahe schon eine gewisse Endzeitstimmung – eine Endzeitstimmung für die repräsentative Demokratie europäischer Prägung.
Das könnte mannigfaltige Gründe haben, die sich in allererster Linie auf die Individualisierung der Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten fokussieren lassen. Alle Kritik, die man an gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen, aber auch sozialen Entwicklungen üben kann, lässt sich in gewisser Weise auf eine oft falsch verstandene Liberalität zurück führen. Diese scheint eine direkte Folge der Globalisierung zu sein, die mit der steigenden Digitalisierung seit der Jahrtausendwende so richtig Fahrt aufgenommen hat.
Sehr deutlich wird diese Entwicklung in der immer stärkeren Polarisierung, die in oft aggressivem Umgangston sehr sichtbar wird – und das nicht nur in sozialen Netzwerken, die ihren beschönigenden Namen oft überhaupt nicht verdienen. In diesen Netzen, aber auch im persönlichen Miteinander trifft ein immer rüderer Sprachgebrauch auf eine immer größer werdende Sensibilität. Man könnte meinen, je mehr die Sprache verroht, umso sensibler reagieren die Menschen – vielleicht bedingt sich ja beides.
Schön nachvollziehbar ist dieser Zusammenhang beispielsweise an den Protesten zu Corona-Maßnahmen in den vergangenen Jahren. Eine oft rüde, überhebliche, beleidigende Sprache im öffentlichen Sprachgebrauch – teilweise von Politikern, Künstlern und Medienschaffenden – gegen Ungeimpfte oder Gegner der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, traf auf eine Märtyrerhaltung. Wer allerdings glaubt, diese Tonalität gab es nur in dieser Richtung, den trübt seine Erinnerung. Denn die rüden Töne kamen sehr wohl auch von den Demonstrationsbühnen und richteten sich gegen den Mainstream, das Establishment und am liebsten gegen die Reizfiguren der Pandemie. So trafen „Aluhüte“ und „Schwurbler“ auf „Giftspritzer“ und „Volksverräter“ – und alle waren beleidigt.
Ganz ähnlich polarisieren gerade junge Leute der „Letzten Generation“, die sich wahlweise auf Straßen festkleben oder Kunstwerke mit Suppe bewerfen, um auf den Klimawandel hinzuweisen. Auch hier gibt es nur ein Schwarz-Weiß-Denken: Die einen verteidigen die Klimakleber, adeln sie als „Aktivisten“. Andere beschimpfen sie als „Klimaterroristen“ oder fordern gar, diese einfach von den Straßen loszureißen. Einen differenzierten Blick gibt es nicht – dafür aber nachweislich eine Globalisierung in der Finanzierung der jungen Leute, die von US-amerikanischen Stiftungen mit Gehältern ausgestattet werden, damit sie ihrem „Protest-Job“ nachgehen können. Zumindest diese Tatsache verursacht bei nicht wenigen reflektierten Menschen gehöriges Unbehagen.
Sehr deutlich zu empfinden ist in letztgenanntem Thema ein Gefälle auf verschiedenen Ebenen: Während Intellektuelle den klebenden Protest nicht selten als legitim ansehen, lehnt die breite Masse der Bürger diese Form des Aufmerksam-Machens rundweg ab. Auch ein klares Stadt-Land-Gefälle lässt sich immer mal wieder erahnen – während in Großstädten Verständnis aufgebracht wird, hält sich dieses in ländlichen Räumen quer durch alle Bevölkerungsschichten in sehr engen Grenzen.
Überhaupt kann man viele polarisierende Entwicklungen an diesem Stadt-Land-Gefälle fest machen. Man denke nur an das „9-Euro-Ticket“, das natürlich überall eine feine Sache ist, in städtischen Ballungsräumen aber eben viel mehr Sinn ergibt als in der Uckermark oder dem Vogtland. Und: Nur knapp ein Drittel der rund 83 Millionen Bewohner Deutschlands lebt in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern – dennoch trifft die Politik im Bund oft Entscheidungen, die aus der „Berliner Blase“ heraus stammen dürften. Es ist Politik aus der Großstadt für die Großstädter. Verkauft werden diese politischen Entscheidungen dann meist als Erfolge – von Medien, die ihre politjournalistischen Herzkammern auch in den Großstädten haben, in denen der Politikbetrieb aus stattfindet – von Berlin über Düsseldorf bis hin nach Mainz oder München.
Ein Blick auf die Medien lohnt im Hinblick auf die gesellschaftlichen Schieflage. Gerade die Arbeit der Leitmedien in Zeiten von Corona, Klimakrise und Ukrainekrieg darf man kritisch hinterfragen. Hier wurde eine inhaltliche Nähe zu den jeweils Regierenden deutlicher als je zuvor. Manch ein Kritiker sprach von tendenziöser Arbeit, andere gar von „Hofberichterstattung“. Und wenn man sich die Einladungslisten der gängigen TV-Talkformate und die geführten Debatten in den vergangenen drei Jahren einmal genauer anschaut, darf man die Vermutung durchaus hegen.
Eine wirklich seriöse und solide „Gegenöffentlichkeit“ zu diesen medialen Formaten gibt es nicht. Internet und soziale Netzwerke spielen auch hier die größte Rolle. Doch selbst in diesen Bereichen greift der Staat regulierend – und zugunsten der „politisch loyal“ berichtenden Medien – ein. Es wurde die Gilde der „Fakten-Checker“ eingeführt, die in sozialen Medien potenzielle Falschinformationen aufspüren sollen. Doch wenn man einmal genau hinschaut, welche Aussagen, Meinungen und Informationen alles mit einem „Warnhinweis“ versehen werden, macht das sehr nachdenklich. Gibt es beispielsweise Kritik an Windrädern oder Solarparks, am Trend zu Elektrofahrzeugen oder amerikanischen Frackinggas-Lieferungen, dann findet sich umgehend ein Hinweis der „Fakten-Checker“ von „Correctiv“, einem journalistischen Team, das dem Vernehmen nach ganz hervorragend davon lebt, angebliche oder tatsächliche Fake-News zu enttarnen.
Am Ende steht eine höchst moralische Gesellschaft, mit höchst moralischen Ansprüchen an sich selbst. Das Dumme ist nur, dass hier die „richtige“ Moral über der Freiheit steht, auch über der Freiheit auf eigene Meinung, die im Gegensatz zur Moral grundgesetzlich verankert ist. Das ist für ein Land mit der deutschen Geschichte ein riesiges Problem. Denn Ideologien und verquere Moralvorstellungen haben Deutschland im vergangenen Jahrhundert in zwei Weltkriege und ebenso viele Diktaturen geführt. Das kann durchaus Sorgen bereiten.
Bereits in der Schule wäre es deshalb wichtig, den Kindern und Jugendlichen Medienkompetenzen nahe bringt. Doch Schule kann dies – aus strukturellen Gründen in erster Linie – ebenso wenig leisten, wie eine zeitgemäße Bildung. Unsere Schulen vermitteln mit viel zu wenig Lehrern nicht mehr zeitgemäßes Wissen, ignorieren seit Jahrzehnten die eindeutigen Ergebnisse von namhaften Erziehungswissenschaftlern und Hirnforschern über sinnvolle Lehrstrukturen und -inhalte. Hier verbaut sich das „Land der Dichter und Denker“ die eigene Zukunft in einer Welt neuer Herausforderungen. Hier könnte man daran arbeiten, die Schieflage der Gesellschaft langfristig zu korrigieren, statt ihrem Kollaps sorgenvoll entgegen zu schauen.